alltagsblicke #1 - "ich war der lutscher vom papst"

alltagsblicke. texte von menschen aus unserer welt über unsere welt. aus ihren augen. ehrlich, ironisch, provozierend, traurig oder was unsere zeit sonst gerade zu bieten hat. den anfang macht tungor:

Es ist Donnerstag, Tag 3 nach Wochenanfang und 1,5 Tage vor dem Wochenende, ich erwache im eigenen Saft bei geschlossenem Fenster und erschrecke beim Blick aufs Heizungsthermostat – 5. Draußen hellblauer Himmel, Sonnenschein. Es scheint fast so als hätte ich die meteorologische Entwicklung der letzten Tage verpasst, sei‘s drum. Nach einem tiefen Blick in die Wasserflasche starre ich gelangweilt auf den noch immer vom Abend laufenden Fernseher – N24 Morgenreport. Themen des Tages: Bayern verliert in Manchester und benimmt sich bereits jetzt wie der Weltpokalsieger in Spe, die Festnahme eines Diplomaten aus dem Katar beim Versuch sich heimlich an Bord eines Inlandsflugs in den USA eine Zigarette anzuzünden – Terrorverdacht – böse böse und wie sollte es anders sein wieder ein neuer Missbrauchsfall von einem katholischen Kloster, Internat,… whatever.

Seit x Tagen das gleiche Thema, jeden Tag neue Meldungen und jeden Tag kramt die Medienlandschaft ein neues Missbrauchsopfer hervor. Kurzweilig sinniere ich über die Wahrnehmungsverschiebung. Deutschland einig Pädo-Land. Sobald jemand von katholischen Institutionen redet fangen bei den meisten Leuten die Augen an zu glitzern und die Mundwinkel verziehen sich zu einem hässlichen verschmitzten Schmunzeln – voller freudiger Erwartung auf eine neue Horrorstory und die Belustigungen darüber, sei es von einschlägigen Comedians a la Stefan Raab, Harald Schmidt, Ken Jepsen oder Fatih vom Späti nebenan. Zugegebener Weise kann ich mir ein Schmunzeln beim Lesen der Bild-Schlagzeile „Ich war der Lutscher vom Papst“ nicht verkneifen. Doch wenn eine Bekannte sich beschimpfen lassen muss, weil Sie Ihren Lebensunterhalt ehrlich bei einer katholischen Institution verdient, gerate ich ins Stutzen. Ja klar, sie könnte auch einen ehrlichen Job als Dienstleisterin für körperliche Zuwendungen oder als Call-Center Agent annehmen …. aber eine Anstellung bei eben jener Institution erscheint im Freundeskreis untragbar.

In der U-Bahn bekommt man fast das Gefühl Missbrauch sei salonfähig, ich wurde nie missbraucht -kann also nicht mitreden. Jedoch wurde ich kürzlich Zeuge einer Unterredung zweier Schulkinder in der U7, gesammelte Zitate:„Was für ‘n Scheißtag heute. Schon wieder nicht missbraucht worden von der geilen Bio-Lehrerin, hähähä“Antwort von zwei jungen Schwulen„Wir sind auch immer so neidisch, wenn wir die tollen Geschichten hören. In unserer Schule ist einfach nix passiert, so dass wir jetzt immer in die Motzstraße zur Nachhilfe müssen.“ Alle lachen.

Der Gedanke ein Recht auf Missbrauch haben zu müssen keimt auf, durchaus ein Thema für die Richter in Karlsruhe. Dennoch wie geht man mit der Situation um? Es klingelt, meine Mitfahrgelegenheit steht vor der Tür und ich sitze in Shorts vorm Fernseher, der Alltag hat mich wieder.

verfasst von tungor